Sonntag, 26. April 2009

6. Dokfilmwoche Hamburg 2009

3 dokumentarische Nachwuchswerke aus der dffb ließen auf der diesjährigen Dokfilmwoche aufhorchen. Alle 3 machen es dem Zuschauer nicht leicht, allesamt verbindet die zentrale Frage nach der Exploitation der Subjekte ihrer Abbildung. Die Frage nach Distanz und Nähe zum Dargestellten. Eine Frage, die nicht zuletzt auch moralischer und ethischer Natur ist.

In Heidelberg eröffnet Norman Richter seinen ganz persönlichen Blick auf das Haus der Großeltern, auf Gegenstände, die er mit seinem toten Großvater in Verbindung bringt. Er entwirft Blickbilder, die in ihren jeweiligen Perspektivierungen und Positionierungen nur für ihn Sinn ergeben. Formal löst er sein Anliegen in streng experimental-minimalistischer Gestalt auf. Zunächst spricht er nüchtern über sein Verhältnis zu seinen Großeltern über weißem Bildschirm. Dann zeigt er Bildstilleben ohne Ton (die besagten "eigenen" Bilder). Schließlich hält die Kamera auf seine demenzkranke Großmutter, die verloren mit der Kamera den Satz "Ist er nie mehr da gewesen" repitierend variiert. Richters Film ist zum Einen schwieriges Material, weil es eben "seine" Blicke sind, die von dem Zuschauer mit Bedeutung aufgeladen werden können (nach eigener Aussage wünsche er sich dies). Wenn er das nicht tut, sind die Bilder leer, in ihrer entschleunigten Künstlichkeit sogar anmaßend. Zum Anderen tut sich das angesprochene Problemfeld der Ausbeutung des Dargestellten auf. In diesem Fall sogar noch eine Stufe problembehafteter: Der eigenen Familie. Die schockierende Szene der dementen Frau wirft die Frage nach der Position der am Ende auslaufenden Kamera (erst verschwindet das Bild, dann der Ton) auf. Ist die Großmutter hier noch respektiertes Subjekt oder nicht schon Objekt der schockierenden Wirkung, des erzeugten Mitleids, dessen, "was der Zuschauer sieht" (eine Schau des Zerfalls, des "kurz vor dem Tod sein"). Nicht zuletzt lässt sich an solch einem Filmstudentenwerk trefflich diskutieren über Autorenschaft. Ein aufgeräumt wirkender Richter konnte viele der Bedenken entkräften und gab auch zu Protokoll sich selbst lange Zeit nicht klar gewesen zu sein, ob er diesen Film der Öffentlichkeit präsentiert. Da er es getan hat, muss er sich nun der Kritik stellen.

Die entscheidende Frage nach Nähesuchen und Distanzwahrung bei der Abbildung eines Menschenlebens muss sich auch Sebastian Heidinger in seinem Debut Drifter stellen. Er beobachtet 3 Minderjährige am Berliner Bahnhof Zoologischer Garten beim Heroin Spritzen, Crack rauchen, Obdachlosenasyl aufsuchen, Arztbesuch, Streitereien, Reden über ihr Dasein auf dem Kinderstrich. Heidinger "wohnt ihnen bei", stellt ihren Alltag aus und entzieht sich damit weitestgehend einem Voyeurismus, dem man dem Film nach Sichtung wirklich nicht unterstellen kann. Im Gegenteil: Heidinger integrierte sich in den Alltag, lange bevor er die Kamera anschaltete. Suchte Kontakt und ließ die Kinder entscheiden, was gefilmt wird und was nicht. Viel Interessantes über die Nähe und Distanz zu seinen Figuren gab es im Anschlussgespräch zu erfahren, man kann sich in etwa vorstellen, wie groß die moralische Verantwortung gewesen sein muss (und noch ist). Der Stil ist simples Direct Cinema, perfektioniert, weil die Kamera zwischen Alltagshandlungen und den Zuschauer schon physisch angehenden Szenen (lange nicht mehr so häufig wegsehen müssen) einen sensiblen Mittelweg findet, und das Szenario so authentisch wirken lässt, dass man dieses Nebenher nur durch Reflexion verarbeiten kann.

Wie Heidinger gehört auch Eva Stotz zur Gruppe Super9 um Andres Veiel, die sich über die letzten Semester an der dffb formiert hat. Auch ihr Film Sollbruchstelle bringt uns zurück zur alten Frage nach dem Ausstellen eines Lebenslaufs als Instrumentalisierung für ein Filmkonzept. Ähnlich wie in Richters Heidelberg kommt hier ein naher Verwandter unter die Lupe: Der eigene Vater wird in Stotz Essayfilm zur zentralen Figur, und gerät unversehens in eine Charakterisierung, welche die Filmemacherin nur peripher intendiert haben kann. Die Offenlegung der Persönlichkeit des Vaters - einem zwischen gekränktem Narzissmus und dem Statusdenken der Arbeitsgesellschaft, die der Film primär angklagt, Gefangenen - ist eine schwierige Gratwanderung und eine bewusste Überwindung der Distanz. Der Vater liefert eben gerade der Idee des Films - die emotionale Vergletscherung eines unsolidarischen Kapitalismus sichtbar zu machen - ein Gesicht. Stotz beobachtet gestresste Gesichter in der Bahn und auf den Straßen, beobachtet Managerseminare, Bewerbertraining, humanistische Schulen. Zentral aber erzählt sie die Geschichte ihres Vaters, der seinen Job auf entwürdigende Weise verlor. Am Ende stellt auch sie den Schock aus, zum Einen da ihr Vater weinend den Raum verlässt, zum Anderen weil sie den Selbstmord einer Nebenfigur des Films bekannt gibt. Sollbruchstelle kann es unter den 3 genannten Beispielen vielleicht am Wenigsten vermeiden der Exploitation der Personen anheim zu fallen. So lange darüber reflektiert wird, mag dies auch möglich sein.

Ging es bei den studentischen Arbeiten im Dokumentarfilmsektor vor allem um das Problemfeld Nähe - Distanz, zeigt sich bei Thomas Heises Material eine andere Schwierigkeit. Ihm misslingt vor allem die Anordnung seiner Objekte. Die 166 minütige "Material"-Sammlung ostdeutscher Zeitgeschichte stammt aus nicht verwendetem Footage. Mit "Kill your darlings and revive them" wird das angeworben. Doch heraus kommen viele Szenen der Pre- und Postwendezeit, die zusammenhangslos aneinandermontiert werden. Es geht Heise um keinerlei Erklärungen, vielmehr um Stimmungsgefüge. Das funktioniert immer dann, wenn Beschönigungen und Abmilderungen über den Äther gehen, und dies dann vom Zuschauer dem geschichtlichen Prozess gegenübergestellt werden kann. Vielfach enerviert Material aber auch nur, montiert Passagen nebeneinander, die nur sehr schwerlich Sinn ergeben. Entrhythmisierte Filmrollen. Häufig Interessantes ohne Verbindungspunkte (Der Nazi-Überfall). Ausgestellte Materialsammlungen aus historischen Eckpunkten - klingt nach einem Markt für die Zukunft (Museum).

Einige Preise sahnte Marko Doringer für seine Offenlegung Mein halbes Leben ab. Über die Nähe - Distanz Geschichte traut man sich hier gar nicht mehr zu sprechen. Doringers Eigenbeschau ist selbstausbeutendes Dokumentarmaterial allererster Güte. Hinter der Frage, was denn so Anfang bis Mitte 30-Jährige für Lebenskonzepte errichtet haben erwächst die Idee der gescheiterten Figuren. Jeder hat sein Kreuz zu tragen und seine Mid-Life-Crisis noch vor sich - so lautet die These, auf die hier nur alles allzu perfekt hinauslaufen mag. Nichts endet zu böse, alles bleibt hübsch lakonisch, die "Suchenden" werden nie in ein schlechtes Licht gerückt. Stattdessen positioniert sich der Vorzeige-Gescheiterte (= Regisseur) im Lichtkegel der Eitelkeiten. Ohne verleumderisch daherkommen zu wollen hatte ich permanent das Gefühl einem komplett gestellten Film, sprich einer Mockumentary beizuwohnen. Alles zu perfekt gestriegelt hier. Die Figuren wie Stereotype eingegliedert. Mindestens ein ziemlich durchgefuchstes Drehbuch dürfte zugrunde gelegen haben.

Ein paar Worte noch zum Eröffnungsfilm Am Pier von Apolonovka von Andrei Schwartz, der einen Einblick in das Treiben an einem ukrainischen Pier gibt, dass einst sozialistisches Urlaubsparadies war. Neben dem fehlenden Geschichtsbild wundert der lässige Ton, das wenige Interesse an Geschichten. Ein paar witzige Momente und vielmehr ist da nicht. Betagter Auftakt des Festivals, der niemandem weh tat.

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